Der Gipfelwanderweg im Nationalpark Harz im Juni 2022

Im Newsletter hieß es „norddeutsche Bergtour“. Norddeutsch verband ich bis dahin immer mit Norddeich Mole, einem Haltepunkt der Deutschen Bahn, dem letzten vor der Nordsee. Aber es wurden auch Gipfel versprochen und da ich ein neugieriger Mensch bin, suche ich kurzentschlossen meine Siebensachen zusammen und schreite frohen Mutes aus, Richtung Altenau Markt, Clausthal-Zellerfeld, Harz, Mittelgebirge, schon Goethe war da.
Kurz ausgebremst vom strengen Busfahrer in Goslar (ich trage die falsche Coronamaske) und hinreichend hungrig für grimmige Gedanken, denn der Altenauer Bäckermeister Kuchenschön schließt seine Türe vor meiner Nase zu, sitze ich bei 30°C schlapp auf der Freibadwiese. Alle Schattenplätze sind belegt, ich halte den großen Zeh ins Wasser. Mein Badezeug liegt zu Hause.
Aber so ein Waldfreibad hat schon was. Wald sowieso, der rückt in einem alles wieder gerade. Natur. Wind. Laufen. Deshalb bin ich hier. Und wegen der KST_lerInnen, vor allem wegen denen! Wir sind elf, Elf auf einen Streich. Nach und nach treffen alle im Landhaus am Kunstberg ein und spätestens im Kaminrestaurant Kleine Oker wird es entspannt und fröhlich. Breites Lächeln. Ankommen!


Freitagmorgen: konzentrierter Blick auf die Handys, Erfahrungsaustausch über Wander-Apps: Komoot liegt deutlich vorn, ich schaue verstohlen auf meine kleingefaltete Karte. Erstes Ziel: den Einstieg finden zum Wanderweg Richtung Wurmberg, bis zum Abend wollen wir in Schierke sein, eine halbe Stunde mit dem Auto, zu Fuß einen ganzen Tag – wie schön! Sonnenschutz wird großzügig verteilt, eine Kopfbedeckung verliehen, ein letztes Zurren am Rucksack, die Gruppe setzt sich gemächlich in Bewegung. Der Hüttenwirt winkt freundlich aus dem Küchenfenster. Mit den ersten Schritten gehe ich in Gedanken die Phasen der Sprechtechnik durch, ich bin vorbereitet und hochmotiviert, ich möchte am liebsten rennen.
Hinter dem Waldfreibad, jetzt still und gesamtschattig, tauchen wir ein in den Nationalpark Harz. Gepriesen und gefördert, bedichtet, besungen, bedacht. Wie viele Menschen sind auf genau diesem Weg schon unterwegs gewesen, wo wollten sie hin, wo kamen sie her, und wo sind sie heute? Das Schwatzen hört auf, die Gruppe zieht sich in die Länge, nur Tritte sind zu hören, gelegentlich ein Schnaufen, ganz leise. Noch sind die Bäume dicht und grün, tatsächlich Tannen, die Zapfen wachsen nach oben, eine Zeichnung aus meinem Heimatkundebuch von vor vierzig Jahren fällt mir ein. Ein paar Lärchen, wie hingestellt, frisches Grün. Ein Eichhörnchen, ganz deutlich, dann der Schatten eines Fuchses (Hase?), meine Brille liegt ganz unten im Rucksack. Über uns – wahrscheinlich – ein Mäusebussard, Buteo buteo, meine Tochter hielt über diesen schönen Vogel in der Grundschule einen Vortrag und übte diesen x-mal zu Hause, wir hörten selbstverständlich jedes Mal andächtig zu, seitdem bin ich per Du mit diesem eleganten Segler.
Es geht hinauf auf den ersten der sieben Gipfel: der Bruchberg, auch Wolfswarte, das Handy gibt bereitwillig Auskunft: 927 Meter über Normalhöhennull, 51° 47′ 1″ Nördlicher Breite, 10° 30′ 0″ Östliche Länge. Aha. Ich suche nach einer Bank, oder wenigstens einem umgefallenen Baumstamm – keiner da, alles wie aufgeräumt. Kein Vogel, noch nicht mal ein Specht ist zu hören, selbst ein Spatz wäre mir jetzt recht. Dafür finde ich drei Walderdbeeren, winzig klein, aber reif, sie fallen mir in die Hand, zusammen mit einer Ameise, einer WALDameise. Wir sind auf der Sonnenkappe, nicht weit vom Oderteich, fünf Kilometer wären es zurück bis Altenau. Es beginnt zu nieseln. Zum Glück, Regenzeug nicht umsonst mitgeschleppt. Jeder zieht etwas Anderes über, je nach Hersteller und Model, die Gesamtfarbe ist trotzdem kollektiv dunkelblau. Nur ein bunter Kinderschirm wehrt sich ein bisschen gegen die Uniformität.
Schon sind wir auf dem zweiten Gipfel: die Achtermannshöhe, nur kurz die Info und nebenbei: gut neunhundert Meter hoch. Das merke ich in den Beinen als ich oben bin. Ein heftiger Wind bläst den Himmel frei, Sonne satt für ein Gipfelfoto vom nächsten Berg, ist ja alles fußläufig hier, und ein Selfie von uns. Zeit für eine Rast, ausgedehnte Mittagspause. Stullen mit Bratklops links, energy-Riegel rechts, Radieschen, Apfelschnitze for free, selbstgebackene Brownies werden herumgereicht, die Stimmung könnte nicht besser sein. Und tatsächlich zaubert ein ganz Erfahrener noch etwas Feines, weil Regionales hervor: Schierker Feuerstein in der handlichen dreiviertel-Liter-Abfüllung, passt genau in die Seitentasche eines outdoor-Rucksacks, Jack Wolfskin sei Dank. Schild nach vorn, extra Foto in Makroaufnahme, dann geht’s weiter, den nächsten Gipfel fest im Blick.
Unbemerkt werden die Bäume grauer, dünner, zerzauster, dann fast durchsichtig, bis sie schließlich ganz verschwinden. Dafür liegen jetzt eine Unmenge von toten Exemplaren einfach nur so da. Umgefallen, weggeknickt, braun und kahl, alle Nadeln verschwunden. Schilder erklären, dass es sich um nützliches Totholz handelt. Soso. Das wünscht man sich ja fast für sich selber. Oben auf dem Wurmberg lehnen wir ganz still am Geländer, schauen hinunter auf dieses, tja, Schauspiel (?). Ich denke an meine Kinder und an deren Kinder. Beim Verabschieden hatte uns der Wirt noch versichert: „ … das wird schon wieder… Nur zehn, zwanzig Jahre, und alles ist wieder grün!“ Der Zweifel sitzt hier oben mit auf den Felsen. Wie eine Mondlandschaft sieht es aus. Braunkohletagebau Welzow, tiefste DDR-Zeit, die ehemalige Grenze winkt, der Kolonnenweg ist deutlich zu sehen. Wo der Wind die kahlen Bäume nicht umgemäht hat, stehen sie wie Streichhölzer herum, wie Kreuze ohne Querbalken. Der Schierker Feuerstein wird hervorgeholt, noch schnell ein Foto von den mächtigen Wolkenformationen, dann wenden wir uns ab und laufen eilig die Felsstufen hinab – wie weit noch, Steuermann? Der schaut nach vorn und schaut in die Rund‘: dreißig Minuten noch, halbe Stund‘! Wir laufen, steigen hoch und runter, wir schauen uns die Gegend an und beginnen wieder zu plaudern, zu reden. Es zieht sich, Schierke ziert sich, will sich nicht zeigen, doch irgendwann sitzen wir im Brockenstübchen und spätestens nach dem ersten Kaltgetränk ist die Stimmung wieder im Hoch.


Die Schierker Jugendherberge verlassen wir am Samstag Morgen frisch und ausgeschlafen, der Weg schlängelt sich durch Wiesen, die immer nasser und zu Mooren mit Holzstegen werden, sehr interessant. Überall Blumen, ich weiß die Namen nicht, googlen nützt nichts – kein Empfang. Auch Bäume gibt es wieder, doch schnell erreichen wir die Waldgrenze, diesmal muss das so sein, denn der Brocken ist in Sicht. „Der Gipfel ist von einer baumfreien subalpinen Zwergstrauchheide bedeckt.“ las ich in einem Flyer. Stimmt. Es ist aber auch sehr felsig, sehr steil, sehr heiß, der Asphalt auf dem letzten Stück vor dem Gipfel flimmert. Jeder kämpft für sich, alle Gespräche pausieren. Beim Stehenbleiben und Schuhzubinden stürzen sich die Mücken auf mich. Endlich die letzte Kehre, endlich ein Luftzug, endlich die Kaffeeklappe des Brockenwirtes, ich sinke auf die Bierzeltgarnitur. Luftzufächelnd sitzen wir da, so wie viele andere auch, die sind aber alle mit der Bahn angereist! Wir posieren stolz mit unseren Wanderstöcken für ein kollektives Ich-war-hier-Foto und verschwinden fix wieder im Wald, es geht ja jetzt abwärts.
Hurtig an einer Würstchenbude vorbei („Jaaaha, ok, nur ein kleines Bier, das große dann bei der nächsten…“), mitten im Wald plötzlich eine Haltestelle Waldspielgelände (Fröhliches Wippen), ein Hinweisschild vermeldet den Kaiserweg. Wir fühlen uns königlich, alle Misslichkeiten (Rucksack drückt, Schuh zwickt und Hunger habe ich auch) sinken unter die Wahrnehmungsschwelle – wissen wir doch, dass wir uns dem Ziel, einem Wellness-Hotel (!) in Bad Harzburg mit jedem Schritt nähern. Ein Gruppenspiel, eine pädagogische Pause, es geht um Frösche oder Enten oder Füße, egal, es ist sehr witzig. Ein Schlenker zum Scharfenstein, ich habe vergessen, der wievielte Gipfel es ist, leichtfüßig hinauf, wir liegen auf den Steinen, schauen in die Wolken und reden. Ich könnte ewig so liegen, doch es wird kühl, wir sind hier nicht am Strand. War der Stausee der Eckertalsperre davor oder danach? Ich erinnere mich an einen wunderschönen Ausblick, doch es ist ein Zuviel an guten Momenten, ich kann nur noch genießen, nicht mehr einordnen: die Landschaft, das Gehen, die Menschen, die Gespräche. Meine Beine laufen wie von selber, ich bin glücklich.
Achtzehn Uhr: wir reisen stolz in Bad Harzburg ein, eine bunte Truppe, alles Uniforme ist längst perdü. Unverdrossen schwatzend, schwitzend, randvoll mit Bildern und Geschichten, mit leeren Magen, aber fünfzig Kilometern in den Beinen. Ermattet liegen wir mehr, als dass wir sitzen, in der schicken Lounge des Harz Hotel & Spa Seela. Um die müden Füße rollern uns die Koffer der schon Gewellnessten, der Klimaanlagenverwöhnten. Wir sitzen nur, wir wollen einfach nur sitzen. Ein bisschen was essen vielleicht, später, und duschen, unbedingt duschen. Gaaanz kalt. Kleine Wünsche, nichts Besonderes, weit entfernt von Spa & Co. Da wissen wir noch nicht, dass wir bis um zwei tanzen werden.
Aber vorher richten wir in der Hotelbar jede Menge Schaden an: wir verwirren die furchtbar ernst guckende dauergewellte Kellnerin mit ungewöhnlichen Getränkewünschen (einen Gin Tonic ohne Strohhalm bitte aber mit Eis und einer Zitronenscheibe statt einer Gurke, und was haben Sie denn für Whiskeysorten?), wir schmeißen am Nachbar-(!)-tisch ein volles Cocktailglas um (um Haaresbreite vorbei am farblich passenden Kleid – die Dame kann sich retten),  wir zertrümmern ein Beistelltischchen (zuvor kurzerhand umfunktioniert als Stuhl). Und wir tragen keinen Schlips.
Schließlich sind die Getränke unfallfrei serviert, man plaudert hier und da, antwortet dies und das und hofft, das Richtige, denn: DIE MUSIK IST ZU LAUT. Jaaa, Musik! Die gibt’s ja auch noch!! Das erste Glas ist nur benippt, da wippen schon die Füße, da wird nach den heruntergerutschten Sandalen geangelt, man schraubt sich betont lässig aus den ultrabequemen Barsesseln und nein, ich war nicht die erste. Der DJ freut sich, endlich wird seine Arbeit hier beachtet, ja ernst genommen. Bereitwillig nimmt er Musikwünsche entgegen, schreibt sie sich sogar auf. Dann wendet er sich seinem bunt beleuchteten Pult zu und beginnt zu performen. Mehr weiß ich von diesem Abend nicht, ich sehe nur noch wild und fröhlich tanzenden Menschen um mich herum, wie Abiturienten am letzten Schultag, abends im Stadtpark. Ich habe meine müden Beine vergessen, meine Sprechtechnik, meinen Namen. Ich tanze. Es ist unglaublich schön. Stunden später schaue ich ungläubig auf meine Rechnung: eine Weinschorle und sechs Wasser, mit Sprudel.


Der Sonntag Morgen findet mich, etwas steif in der Hüfte, am Buffet. Das alte Wort überbordend fällt mir dazu ein. Aber lecker. Ich habe sehr lange nicht mehr so sehr gut (und sehr viel) gegessen, und es genossen. Allen geht es ähnlich, wir zögern die Abschiedsrunde immer wieder hinaus. Wir sind doch eben erst losgelaufen. Aber es hilft nichts. Ein Trost: nach der Tour ist bekanntlich vor der Tour, die Dolomiten grüßen schon. Die Feedbackrunde wird ein geschlossenes emotionales Dankeschön in neun Variationen an die beiden OrganisatorInnen, noch ein Winken am Zug – auf Wiedersehen!

von Steffi

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